Luna

Dicke Regentropfen prasselten an die Scheibe und verbanden sich dort zu kleinen silbrigen Rinnsalen, die stetig nach unten strömten. Das Geräusch der trommelnden Tropfen wirkte auf seine monotone Art seltsam entrückend.

Lunas Gedankengänge schweiften davon. Fort aus Cromwell, fort von dem Schreibtisch, an dem sie saß. Seufzend schloss sie die Augen und träumte von einer sonnigen Insel, schön wie aus Urlaubsprospekten. Sie dachte an Orte der unbezahlbaren Art, wo jedes weiße, feinstaubige Sandkorn am Strand schon Luxus versprach. Aus dem Regen wurde eine flüsternde Meeresbrise. Luna spürte sie geradezu auf ihrer Haut.

In ihrer Vorstellung bohrte sie ihre nackten Zehen in den Sand und hielt ihr Gesicht in die Sonne, roch salzige Luft.

Natürlich war sie in ihrer fiktiven Welt wunderschön, ja anbetungswürdig und nicht belächelt.

In ihren Träumen stahl sie Mytsereu die Show.

Oh ja.

Luna trug einen jadegrünen Bikini und ein Tuch um die schmalen Hüften, das mehr nichts als stofflich war.

Und aus den glitzernden Wellen vor ihr tauchte ein Mann an die Oberfläche, wunderschön, gottgleich und natürlich fixierte er sie mit seinen Blicken. Hungrig.

Beinahe kicherte sie bei diesem Gedanken.

Als ob.

Aber man durfte ja träumen. Und in Utopia war er an ihr interessiert. Sein schwarzes Haar glänzte im Licht, Wasserperlen hafteten an seinem muskulösen Körper, ein verschmitztes Lächeln spielte um seinen Mund und er kam auf sie zu. Blieb nur Millimeter vor ihr stehen und bückte sich dann geschmeidig nach seinem Handtuch, neben dem sie stand. Er richtete sich wieder auf und rubbelte sich damit durch die Haare.

Oh Gott!

Er war so nah; sie könnte ihre Hand nach ihm ausstrecken. Ihre Blicke fanden und verbanden sich.

Klopf, klopf.

Ihr Herz begann zu hämmern.

Gleich würde er sie küssen. Gleich würde er…

Sein Gesicht kam auf sie zu. Seine Lippen teilten sich und…

„Hör auf zu träumen, Luna.“

Sie blinzelte.

Hä?

„Luna!“

Hhhhhhhhhhhh!

Bestürzt fuhr sie hoch und klappte die Augen auf.

Vor Schreck stieß sie mit dem Knie gegen die vermaledeite Tischplatte.

„Autsch, Mist. Oh!“

Hastig wie ein Huhn schob sie einige lose sortierte Blätter ganz sinnlos zu einem Stapel zusammen, um den Anschein von Geschäftigkeit zu vermitteln und um ihre peinliche Berührtheit zu überspielen. Regen hämmerte gegen die Scheibe ihres Vorzimmers und mit empor gewölbter Augenbraue stand Sir Fowler in braunem Tweed vor ihr.

„Ach ich… oh ich…“

Er kam auf sie zu und lächelte begütigend.

„Luna, das muss wirklich aufhören. Immer diese Tagträumereien.“

„Ja, nein, ich…“

Sie nickte scheu. War das peinlich! Ausgerechnet vom Chef erwischt zu werden. Schon wieder.

„Etwas bedrückt dich doch, meine Liebe.“

„Oh nein, nein. Ich sollte abends nicht mehr… äh… Brauseeis essen. Am nächsten Tag bin ich nicht mehr ich selbst. Das ist sicher der Zucker.“

Ihr Lächeln war etwas schief und aufgesetzt. Aber ihr Blick sagte so eindeutig und flehend, dass er nicht mehr nachbohren sollte.

Luna erkannte, dass er ihr diese Lüge nicht abkaufte. Sie war wahrlich nicht begnadet im Erfinden von Ausreden. Gestern erst hatte sie ihm erklärt, dass der Vollmond ihre Hirnströme durcheinanderbrächte. Vorgestern betrauerte sie den Verlust ihres Wetterfroschs. Den Tag davor hatte sie schlechte Omen in ihrem Kaffeesatz als Ursache angeführt. Und neulich, ja neulich erst, war es noch der schreckliche Geruch an der Tanksäule gewesen, sicherlich toxische Dämpfe, die sie nicht ganz sie selbst sein ließen.

Er wusste, dass sie Vorwände erfand.

Und sie wusste, dass er zu gütig war, um es ihr vorzuwerfen und dass sie selbst lieber hanebüchene Erklärungen aus dem Hut zauberte, als zu offenbaren, was wirklich in ihr vorging. Sie konnte nicht anders. Also ließ er sie.

Luna erkannte die Resignation in seinem Blick. Er nickte schließlich und legte ihr beinahe väterlich die Hand auf die Schulter.

„Aber gewiss. Zucker kann einen leicht inkommodieren.“

Sie blinzelte irritiert.

„Bitte was?“

Inkommodieren? War das etwa ein Wort?

„Ich meine damit, er kann leicht verunbequemen.“

Hä?

Manchmal war er wirklich ein merkwürdiger Kauz und man merkte ihm an, dass er Deutsch zu einer Zeit gelernt hatte, die nicht mehr ganz zeitgemäß war.

„Er kann Unannehmlichkeiten bereiten“, erklärte er beflissen.

„Oh ja, sicher. Klar. Danke.“

Sir Fowler ging kopfkratzend in sein Büro hinter ihr und schloss die Tür, ließ ihr damit Zeit, sich zu fassen und alles zu richten, was anstand.

Gerade drehte sie sich erleichtert wieder nach vorn, als ihr Blick an der Tür kleben blieb. In der Öffnung stand Professor Damian Lichtenfels.

Seine aristokratischen Gesichtszüge wirkten auf eine kühle Art belustigt. Er gab ihr immer das Gefühl, ein Käfer mit kaputten Flügeln zu sein, den man nur deshalb betrachtete, weil das Kaputte daran faszinierend und gleichzeitig minderwertig war. Als wäre sie eine Studie.

Als wäre sie ein verdammtes Insekt!

„Sind meine Kopien schon fertig?“, erkundigte er sich formlos.

„Ich wünsche ihnen auch einen guten Morgen.“

„Tun Sie das?“

Keine Regung in seinem Gesicht.

„Wenn Sie mich so fragen…“

Sie verschränkte die Arme vor ihrer geblümten Bluse.

Sein Blick wurde schmal. Er zog ein kleines buntes Papierchen aus seiner Jackettasche.

„Auf dem Flur ist mir eine Verunreinigung zu Augen gekommen.“

Luna runzelte die Stirn.

Er trat vor und legte das zerknüllte Blättchen auf ihre Tischplatte.

„Scheint mir Abfall zu sein. Die Verpackung von Luna Bubba.“

Luna lief rot an. Vor allem vor Wut.

„Das heißt Hubba Bubba“, berichtigte sie ihn.

„Gemeinhin schon, aber diese besonders widerwärtige Geschmacksrichtung wird, so meine ich, nur von ihrer Kauhöhle bevorzugt.“

„Kann hier eigentlich niemand richtig sprechen? Das ist mein Mund!“, schimpfte sie.

Er lächelte listig.

„Wusste ich doch, dass es von Ihnen ist. Aus ihrem Mund meinetwegen. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Der springende Punkt ist doch, dass die Hausregelungen – und diesbezüglich möchte ich vornehmlich auf meine letztmalige Erweiterung hinweisen – klar gebieten, dass die Flure, respektive das gesamte Gebäude, nicht zu verunreinigen sind.“

„Aber…“

„Und gerade der Lehrkörper sowie auch anderes Hauspersonal – also Sie etwa – sind daher ganz besonders zu einer Vorbildfunktion angehalten und…“

Eine starke Hand griff nach dem Papierchen auf ihrem Tisch. Schwarze Härchen zierten den Handrücken. Gepflegte und wohlgeformte Finger schlossen sich um das Korpus Delikti.

„Oh, da ist es ja. Ich habe es schon gesucht.“

Diese unglaublich wohlklingende Stimme stellte alle Härchen in ihrem Rücken auf.

„Wie bitte?“ Lichtenfels fuhr herum.

„Mein Kaugummiblättchen“, erklärte Pater Ignatius milde. „Es muss mir aus der Tasche gefallen sein. Also habe ich es gesucht, um es fachgerecht zu entsorgen. Das gebietet mir doch meine Vorbildfunktion, oder etwa nicht?“

Lichtenfels sah ihn konsterniert an.

„Dürfen Sie überhaupt lügen?“, fragte er brüsk.

Luna schnappte nach Luft und Lichtenfels bedachte sie mit einem vernichtenden Blick.

„Gebärden Sie sich nicht wie ein Fisch“, rügte er sie.

Hhhhhhhhhhhhhh!

„Aber… ich…“

„Fräulein Luna hat gewiss nichts Fischhaftes an sich“, beteuerte Pater Ignatius sogleich. „Und was ich darf oder nicht liegt zwischen mir und Gott und nicht zwischen mir und Ihnen, verehrter Professor Lichtenfels. Der Unterschied ist Ihnen gewiss geläufig.“

Luna unterdrückte ein aufsteigendes Kichern in ihrer Kehle. Sie wollte bestimmt nicht klingen wie ein debiles Huhn. Aber sie war sich absolut nicht sicher, ob Professor Lichtenfels bisweilen nicht doch in seiner Vorstellung auf einer Stufe mit dem Schöpfer stand. Im Erschaffen von Hausregeln war er jedenfalls ganz groß.

„Ich bezweifle sehr, dass der Müll von Ihnen ist, Pater“, deklarierte er.

Ach nee.

„Tatsächlich?“ Ignatius sah ihn amüsiert an. Dann begann er umständlich das Papierchen auseinander zu falten und las die Geschmacksrichtung ab. „Minze-Holunder.“ Er warf einen kurzen Blick mit hochgezogener Braue zu Luna. Es schien, als wollte er sie dasselbe fragen wie zuvor Damian Lichtenfels. Tatsächlich? So wie in Allen Ernstes?

Luna zuckte nur trotzig die Schultern und reckte aufmüpfig das Kinn. Mit ihrem Geschmack war alles in Ordnung. Schließlich kaute sie nicht Mokka-Quark.

Ignatius wandte sich wieder Lichtenfels zu und hielt ihm das Verpackungsteil vor die Nase.

„Minze-Holunder“, sagte der Pater triumphierend. „Da steht es ja. Ich habe Minze-Holunder gegessen.“

Vermutlich stimmte das sogar. Irgendwann in seinem Leben hatte Pater Ignatius ganz sicher Minze und Holunder getrennt voneinander gegessen.

„Das gehört in den Müll.“ Lichtenfels‘ Stimme klang kalt und spuckend und er streckte doch tatsächlich seinen Zeigefinger zum Papierkorb.

„Da haben Sie wirklich Recht.“ Ignatius schmunzelte und sah in Lunas Richtung. Er zwinkerte, als wollte er sagen, dass es besser sogar in den Müll gehörte, bevor man es auspackte.

Haha!

Sie lächelte schief und beobachtete den Pater, wie er ihren Abfall entsorgte.

„Meine Kopien?“, fragte Lichtenfels Luna nun ungeduldig.

„Oh ja, hier.“

Sie griff nach dem wirr zusammengeschobenen Blätterstapel auf ihrer Tischplatte und reichte diesen mit ausgestreckten Armen und großer Geste an den Professor.

Damian starrte auf das völlig unsortierte und an manchen Ecken gar geknickte Bündel und sie bemerkte den Schauer der Abscheu, der seinen Rücken durchlief. Dann bedachte er sie wieder mit diesem Insektenblick, nahm ohne Dankesworte den Stapel und stürmte davon. Es war wie der Abgang von Dracula.

„Dankeschön“, flüsterte Luna dem Pater zu.

Er fuhr sich mit der Hand durch das regennasse Haar und verstrubbelte es dadurch. Nun sah es so aus wie in ihren Träumen, als er es mit einem Strandtuch abgerieben hatte. Es hingen sogar einige Regentropfen an seiner Haut.

Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass es Meerwasser war.

Salzig.

Luna schaute betreten auf ihre Tischplatte. Es durfte nicht sein, dass er merkte, was in ihr vorging. Oder dass er sie erröten sah.

Ignatius war katholischer Priester.

Oh Himmel!

Was für ein Elend für ihr Gefühlsleben.

Er setzte sich mit der linken Hüfte auf ihre Tischplatte und beugte sich vor.

„Nimm es dir nicht so zu Herzen“, sagte er und legte seine warme Hand tröstend auf ihre.

Lunas Blick fuhr hoch und sie sah ihn direkt an. Hatte er etwa doch alles gemerkt? Wie sollte er auch nicht? Es verging keine Sekunde, in der sie nicht an ihn dachte.

„Lass dir von Lichtenfels nicht den Tag verderben.“

Ach so.

Halb beruhigt, halb enttäuscht nickte sie.

Im Moment hielt er ihre Hand, war bei ihr und widmete sich ihr voll und ganz. Das waren die flüchtigen Lichtpunkte, die sie genoss, als wäre sie eine Ertrinkende und er ihr letzter Anker.

Luna wusste, dass man sie für absonderlich hielt und Damian Lichtenfels hielt sogar noch weniger von ihr. Aber das schien er mit der ganzen Welt zu tun.

Ignatius war immer gütig und liebevoll. Er gab ihr nie das Gefühl von Unzulänglichkeit oder Absurdität. Doch natürlich war er zu gut, um einfach nur weltlich zu sein. So war er in seiner Seele noch etwas anderes.

Und in ihrem Kopf auch.

Der einzige Verknüpfungspunkt dieser beiden Welten schienen im Augenblick ihre Hände zu sein.

Vielleicht gab es nicht mehr.

Luna lächelte tapfer.