Wiccaträume

Luna klickte sich durch das „Pet-Net“, einer virtuellen Seite, zu der nur Magiebegabten der Zugang gestattet war. Der Link dorthin war so umständlich, dass man ihn nicht einfach zufällig fand. Und auch dann deutete alles nur auf eine Homepage unter Konstruktion hin. Lediglich eine kleine weiße Fläche auf einer großen weißen Fläche war verlinkt und verlangte sofort nach Usernamen und Passwort. Als Angestellte in Cromwell nutzte sie den Account-Zugang der Mitarbeiter.

Innerlich war sie voller Aufregung. Das „Pet-Net“ war nur ein Unterbereich dieser magischen Homepage „Kumulatio Magica“ (kurz: Kuma), deren Server – auf denen die Daten gespeichert waren – sich samt und sonders im Besitz Magiebegabter befanden. Ein Gremium der verschiedenen Orden überwachte die Inhalte und fungierte als Administratoren.

Die Kuma war ein buntes Sammelsurium aus Themengebieten, Fragestellungen und Ideen, Zirkeltreffen, geschichtlichem Wissen und ungezählten Rubriken, dass man – ähnlich wie bei einer Enzyklopädie – für alles Einträge fand und sich jahrelang damit hätte beschäftigen können.

Entsprechend oft zog es Luna auf die Homepage. Doch neben all den illustren Inhalten, die wie ein mäandernder Gebirgsbach zu immer neuen Beiträgen weiterströmten, und die wenige Zeit des Tages ebenso dahin plätschern ließen, gab es ein Gebilde aus Daten, dass sie so anzog, wie vierblättrige Kleeblätter die Glückssucher: das „Pet-Net“.

Gewiss, sie war keine „richtige“ Wicca. Das hatte sie hart getroffen. Festzustellen, dass gefühltermaßen magisches Potential in ihr vorhanden war, aber von solch geringen Auswüchsen, dass jeder Bonsai im Vergleich wie ein Riese anmutete. Dennoch bemühte sie sich aus vollen Kräften, ihre innere Verbundenheit zur Natur zu finden. Und tatsächlich schien es, als würden schillernd bunte Kristalle positive Energien versprühen. Daher häuften sich in ihrer Wohnung Rosenquarze, Amethyste, Azurite und andere funkelnde Steine. Sie standen in Gruppen beieinander, als wären es Fliegenpilze auf einer sonnigen Wiese.

Doch die „richtigen“ Wicca belächelten sie nur und nannten sie eine Esoterikerin!

Aber weshalb hätte sie die Kristalle aus ihrer Wohnung, von ihrem Schreibtisch oder den Schmuck entfernen sollen, wenn es ihr mit ihnen doch eindeutig besser ging? Nur um nicht als alternative Träumerin abgeschrieben zu werden? Sie hätten ohnehin dasselbe gedacht. Kein Kristall der Welt konnte das ändern. Also beließ es Luna dabei. Sie tat sogar immer einen Kristall in ihre Kandisdose. Dadurch hatte der Zucker eine bessere Wirkung. Es stimmte tatsächlich.

Und gehörten Kristalle etwa nicht zur Natur? Weshalb taten die Wicca so überheblich?

Wir alle sind Sternenkinder, dachte sie. Geboren aus dem Staub verbrannter Sonnen.

Auch Quarze und Turmaline waren aus demselben Stoff gemacht wie Magiebegabte. Es musste Verbindungen geben. Sie spürte sie doch! Sie als Esoterikerin zu bezeichnen war solch ein Quatsch. Schließlich verkaufte sie keine Einhornessenzen oder machte Engelsitzungen. Das wäre Unfug gewesen. Aber die Macht der Kristalle lag doch auf der Hand!

So hatte sie sich damals beim Wicca-Orden beworben. Sie fühlte, dass dort ihr Platz war. Wie sehr sie sich danach sehnte, diesem Orden anzugehören. Dann wäre sie eine von ihnen, könnte ihren Ritualen beiwohnen, dürfte an der Litha-Zeremonie teilnehmen und die Sommersonnenwende mit allen anderen zelebrieren.

Gelacht hatten sie. „Wach auf Luna“, hatten sie gesagt. Wie oft sie schon „Wach auf“ in ihrem Leben gehört hatte. Dabei war sie doch wach. Mit allen Sinnen. Vielleicht mehr als die anderen. „Du bist keine Wicca, noch wirst du es jemals sein. Deine Energien sind rein imaginär und existieren nur in deinem Kopf. Wir Wicca nehmen nichts in dir wahr. Wie sollten wir dich da als Schwester erkennen? Wie könntest du je eine Wicca sein? Träumen kannst Du, immer nur träumen, Mädchen mit dem Mondnamen.“

Sie hatte geweint. Tage.

Wochen.

Monate.

Schließlich hatte sie sich der menschlichen Forschung zugewandt und mit der Kristallographie befasst. Ferner hatte sie die Kunst des Kartenlegens erlernt und wie man es deuten musste. Beinahe unheimlich traf alles zu, was sie legte. Doch sie sagte es niemandem. Es war genug des Spottes.

Und schließlich, eines Morgens, hatte sie in ihre Zukunft geblickt und sich Seite an Seite mit einem Familiar gesehen. Welche Offenbarung! Bestätigte dies doch, was sie schon lange inständig fühlte. Sie war eine Wicca. Und ihr war ein Hexentier bestimmt.

Nun saß sie am Computer und stöberte fiebrig vor Aufregung auf der Kumulatio Magica Homepage durch das „Pet-Net“, der Suchen-und-Finden-Börse für Familiare und Wicca.

Hier stellten Tiere ihre Profile ein. Natürlich tippten sie nicht selbst. Das war mit Pfoten und Schnäbeln nicht gerade günstig. Aber sie konnten sprechen und diktieren. Diktieren konnten sie überhaupt sehr gut. Jeder wusste um die stolze und teilweise großspurige Natur von Familiaren. Woran erkennt man ein Hexentier? – Es schwatzt dir ein Ohr ab. Und wenn es sich denn mal dazu herabließ, fester Vertrauter einer Wicca zu werden, inserierte es in der heutigen Zeit gerne online.

Hier irgendwo im Pet-Net war vermutlich ihr Familiar. Sie hatte durchaus schon dem einen oder anderen geschrieben, aber bisher keine Antwort erhalten. Das war zwar frustrierend, denn die Warterei war nicht eben eine Stärke von ihr, aber andererseits wollte sie ja auch ihren richtigen Vertrauten finden.

Eigentlich dachte sie, diesen schon entdeckt zu haben. Er war einfach wundervoll. So erhaben und machtvoll. Das war überhaupt sehr faszinierend. Er prahlte damit, die Macht einer Wicca verdreifachen zu können. Würde dies nicht herrlich sein? Warum eine starke Hexe noch stärker machen? Warum nicht sie – Luna – aus dem unterirdischen Wurzelwerk ihrer Magie herausholen an die Oberfläche und zu einem sichtbaren Pflänzchen machen? Mehr wollte sie doch gar nicht. Er könnte es gewiss. Dann würden auch die Wicca merken, dass ihre Energien keine Einbildung waren.

Liebevoll streichelte sie das Foto des schwarzen Katers mit der weißen, galaxieförmigen Blesse auf der Nase. Osiris. Der schmusige Machtverstärker trug diesen göttlichen Namen. Familiare suchten sich ihre eigenen Namen aus; so eigen waren sie eben. Karamellfarbene Augen blickten sie gönnerhaft aus dem Bild an.

Es gab natürlich diverse Anzeigen von Familiaren und sie hörten sich in vielen Teilen unterschiedlich an. Meist bargen sie aber bei den Anforderungen an die Wicca gewisse Gemeinsamkeiten an unüberwindbaren Hürden, die in etwa so klangen: „Du bist mächtig“, „Du bist reich“, „Du hast Ansehen“, „Du führst einen Zirkel der Sieben“, „Du hast mindestens die fünfte Sphäre der Energie erreicht“ oder „Du beherrschst das Krakatau-Ritual“ – Phhh! Als ob.

Und dann war da Osiris: „Deine Macht ist mir egal, denn mächtig bin ich schon. Ich weiß, du willst mich und das kann ich gut verstehen. Ich will gekrault werden, fernsehen, dich herum kommandieren dürfen und mag Einklang. Du solltest also meiner Meinung sein. Jetzt schreib mir schon. Du hast hoffentlich ein interessantes Hobby.“

Luna hatte die Aufforderung zu schreiben so unmissverständlich gefunden, dass sie prompt reagiert hatte.

„Ich bin Luna und sammle Kristalle. Ich würde dir einen Thron aus Lapislazuli bauen, dich kraulen und fernsehen lassen den ganzen Tag. Ich kann singen, Karten legen und Scherenschnitte von dir anfertigen. Ich arbeite in Cromwell und bin eine Sekretärin. Nichts an mir könnte dir überlegen sein. Andere Wicca würden dich formen wollen und ihrer Eitelkeit folgend eine eigene Meinung haben, die nur zum Spott eine andere sein könnte, als deine. Ich kenne den Spott der Wicca. Immer wieder blickten sie auf mich herab, obwohl ich doch eine Schwester bin. Du verdienst Besseres als eine eitle Hexe. Wir wären sicher im Einklang. Das fühle ich genau. Bei mir kannst du einfach großartig sein.“

Natürlich hatte sie mit sich gerungen. Hatte sie den richtigen Ton getroffen? Sie wollte ja nichts falsch machen. Aber es sollten schließlich keine Lügen zwischen ihr und ihrem vorbestimmten Familiar sein. So hatte sie offen heraus geschrieben, was sie dachte.

Und keine Antwort erhalten.

Vielleicht, aber nur vielleicht würde sie ja heute endlich Glück haben.

Es wäre wirklich an der Zeit. Erst dass die Wicca sie nicht wollten. Dann das unglückliche Verliebtsein in einen katholischen Priester. Niemand nahm sie ernst, man beschmunzelte sie nur, als wäre sie ein traumwandlerischer Karpfen, der dachte, ein Eichhörnchen zu sein. Schließlich und schlussendlich war aus ihr nichts anderes geworden, als eine Sekretärin. So hatte sie sich ihr Leben selbstredend nicht vorgestellt. Kein fünfjähriges Mädchen antwortete auf die Frage, was sie einmal werden wolle, mit: Sekretärin. Oder Esoterikerin. Oder Witzfigur. Oder unglücklich verliebt.

Nein, sie hatte durchaus Ideale. Einmal eine Ordens-Wicca zu sein und einen Prinzen zu finden, das hätte sie sich erhofft.

Was würden die anderen Wicca wohl schauen, wenn sie – Luna – einen Familiar besäße und viele von ihnen nicht? Denn es gab einfach nicht genügend Vertraute für jede Hexe. Höchstens eine von Zwanzig hatte einen. Da war es nicht verwunderlich, dass Hexentiere durchaus wählerisch waren und ihre Ansprüche stellten.

Und eines stand ganz gewiss fest: Wenn man einen Familiar hatte, dann war man doch eindeutig eine Wicca. Auf Biegen und Brechen gab es daran doch nichts zu rütteln.

Beschwörend rieb Luna über einen Bergkristall, denn sie wollte Berge versetzen. Wenn sie jetzt ihren Mailaccount…

Da!

Den Kristallen sei Dank! Da!

Luna wurde ganz zappelig, als sie auf die einsame Mail klickte, deren Absender ihr Osiris war: „Bist du hübsch? Schick mir ein Foto.“

Sie blinzelte perplex. Das war kein Nein. Das war absolut kein Nein. Schnell – sie würde sich drei Dutzend Termine beim Friseur, Nagelstudio, der Kosmetikerin und allen anderen Schönmachern geben lassen, um ihre Anmut bestmöglich zur Geltung zu bringen. Danach würde sie sich eine wundervolle Porträtaufnahme gönnen und Osiris hoffentlich gefallen.

Taumelig vor Glück sprang sie auf und hüpfte durch die Wohnung.

„Ich werde eine Wicca, ich werde eine Wicca“, sang sie vergnügt.