Gespräch zwischen Valerian und Linda

(Reaktion auf die April- und Osterkolumne)

Valerian schlug die Studentenzeitschrift zu und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. In letzter Zeit war wirklich der Wurm drin in Cromwell. Das passte sogar ganz wörtlich auf diesen miesen Wurm Lichtenfels, der sich bereits mit einem Artikel in die schülereigene Zeitschrift Cauldron, Toad and Witch’s Tooth eingeschlichen hatte.

Widerlich! Der Mann sollte doch echt mal realisieren, dass er zu alt war, um noch als Student durchzugehen. Das war eindeutig nicht seine Plattform. Midlife Crisis Opfer. Völlig klar.

Deswegen zickt er auch so rum, dachte Valerian. Ordnung in den Fluren! Aufsicht führen! Pah!

Als ob das noch nicht schlimm genug wäre, war nun auch noch der Tantrakurs abgesagt worden. Ersatzlos gestrichen! All diese schlaflosen Nächte – völlig umsonst.

Vermutlich steckte da auch dieser Lichtenfels hinter. Der sagte doch alles ab, was Spaß machte. Dem hätte ein wenig Tantra nicht geschadet. Aber wer hätte mit ihm schon einen Kurs teilen wollen? Igitt, nein. Doch das war nun ja auch egal.

Valerian waren die Zeilen aus der Zeitschrift im Halse stecken geblieben. Grübelnd und schmollend saß er da und starrte auf seine drei leergegessenen Dessertschälchen.

„Erde an Valerian“, sagte Linda.

„Was?“

Er blickte auf und sah sie an. Manchmal war sie direkt unheimlich, konnte nichts sehen und schaute geradewegs in ihn rein. So wie jetzt auch. Ihre klaren hübschen Augen waren auf ihn gerichtet und sie schien zu ahnen, was in ihm vorging.

„Du hast seit mindestens einer Minute nichts mehr gesagt“, erklärte sie.

„Der Artikel ist fertig.“

Valerian hatte Linda aus der Zeitschrift vorgelesen. Da sie blind war, hatte er es sich angewöhnt, ihr vorzulesen, wenn eine neue Ausgabe erschien. Sie schmunzelte wie eine Katze. Wissend und mit einem Zucken im linken Mundwinkel. Verflucht, wenn sie so dasaß, brauchte er kein Tantra bei Mytsereu, doch lieber würde er sich die Zunge abbeißen, als Linda das zu sagen.

Er fragte sich aber schon, wie sie reagieren würde? Sicher würden ihre verdammt hübschen Augen sich überrascht weiten. Aber wäre sie entsetzt oder würde sie rot anlaufen? Mädchen hatten irgendwie eine andere Auffassung von Komplimenten als Männer. Das war sehr verwirrend. Linda nickte.

„Ja, der Bericht ist fertig, aber wieso hörst du zu lesen auf? Es stehen doch noch mehr Artikel drin. Wo sind die lustigen Witze, auf die ich mich immer freue? Wo die kleinen Anekdoten aus den verschiedenen Zirkeln?“

Valerian kratzte sich am Kopf und grinste schief.

„Wo? Na in der Zeitschrift.“

„Haha.“ Sie lehnte sich vor. „Was ist so schlimm daran, dass es kein Tantra mit Mytsereu gibt?“

„Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst. Immerhin hast du sie nicht gesehen. Aber… Wahnsinn. Der Kurs wäre nett geworden.“

„Du meinst Hormon durchflutet.“

Er zuckte mit den Achseln.

„Wenn du so willst.“

„Sie ist deine Lehrerin“, wandte Linda ein.

„Aber so sieht sie nicht aus.“

„Sie unterrichtet Illusionen.“

Guter Punkt, aber…

„Mytsereu sieht verdammt wirklich aus für mich“, sagte er.

Linda rollte mit den Augen.

„Hey, was ist so schlimm daran?“, verteidigte sich Valerian. „Versteh mich nicht falsch, aber wenn du besser sehen könntest, wärst du auch oberflächlich.“

Okay, gar nicht gut.

Ihr Gesicht schien sich förmlich vor seinen Augen zu verkrampfen.

„Ach Linda, so meinte ich das gar nicht. Es ist nur so leicht für dich, auf Äußerlichkeiten nicht so viel zu geben. Aber hörst du gern Musik? Mytsereu ist wie Musik für die Augen. Sie spricht Männer einfach an. Und wenn du sehen könntest, dann würdest du auch Dinge mögen, die deinen Augen so gut tun, wie Musik deinen Ohren.“

„Verstehe.“

Nur dass sie so wortkarg antwortete – dreisilbig um genau zu sein – war noch immer nicht so prickelnd.

„Na ich meine, eigentlich ist alles für die Sinne oberflächlich, oder? Keiner beschwert sich, wenn man offen zugibt, dass man Sachen mag, die gut duften. Oder Essen, weil es lecker ist. Oder Seide, weil sie sich toll anfühlt. Wenn du Musik nur magst, weil sie sich gut anhört, dann ist das okay. Aber wenn ich Mytsereu mag, weil sie gut aussieht, dann ist das ja mit den Augen gedacht und daher nicht in Ordnung. Oberflächlich. Warum werden Augen so diskriminiert?“

Linda schien ihn anzusehen und blinzelte dann mehrmals.

„Fragst du mich das wirklich?“, sagte sie schließlich.

„Okay, vergessen wir mal, dass du blind bist…“

Wieder blieb sie still. Wartete. Schaute ihn blicklos an.

„Ja, vergessen kannst du das so schlecht. Ich gebe es zu.“

„Wenn du mal deine Augen schließt und unter deinen Augenlidern nicht weiter versuchst, sie dir vorzustellen, sondern dich auf das konzentrierst, was du sonst noch an ihr magst. Würdest du dann immer noch so sehr an sie denken?“

„So ganz ohne Bild?“

Linda seufzte.

„Ja, bitte. Es geht darum, sie nicht auf ihr Äußeres zu reduzieren. Übrigens etwas, dass man Musik, Essen und Düften – anders als Personen – schlecht vorwerfen würde. Essen hat keine inneren Werte, außer du zählst Kalorien als Charakter.“

„Ja, wo wir bei Musik und Essen sind: Die Stimme ist auch nicht schlecht. Damit bringt sie Schokolade zum Schmelzen.“

„Stell dir vor, ihre Stimme klingt wie die von Lichtenfels“, beharrte Linda weiter.

„Man, dafür müsste sie aber ganz schön Kette rauchen, um so tief zu klingen.“

„Puh Valerian, versuch dir das Äußerliche wegzudenken.“

„Na, aber wenn ich sie nicht sehen kann und sie klingt wie Lichtenfels, dann würde ich doch im Dunkeln denken: Hey, da ist Lichtenfels. Klar ist das gruselig.“

„Okay, sie klingt nach irgendwem, eine ganz beliebige Stimme, die nichts mit Einschmelzen zu tun hat und ihr Äußeres ist auch egal. Was hat sie Tolles gesagt? Wann war der magische Moment, als du dachtest: Egal, dass sie älter ist. Aber diese Frau ist einfach genial.“

„Also gedacht hab ich das, als sie sich vorlehnte und ich weiß nicht mehr, was sie in dem Moment gesagt hat. Okay, ich bin oberflächlich und ich würde nicht fasziniert sein, wenn sie nicht heiß wäre und Schmelz in der Stimme hätte. Hat sie aber. Soll ich mir jetzt die Augen ausstechen und die Ohren ausbohren, damit aus mir ein besserer Mensch wird?“

Linda schüttelte den Kopf.

„Manchmal glaube ich, du bist nur so langsam im Begreifen, weil du ein Unsterblicher bist und ewig Zeit hast. Es geht mir nicht darum, dass du nichts mehr siehst, sondern dass du aufmerksamer bist, dass du den Leuten zuhörst, dass du auch auf den Charakter achtest.“

Er grinste triumphierend.

„Hey, das tue ich. Mir ist völlig klar, dass Lichtenfels grauenvoll ist. Den kann ich nicht ausstehen und…“

„Und wenn Mytsereu wie Lichtenfels wäre?“, unterbrach sie ihn. „Dasselbe Aussehen, die tolle Stimme, aber der Charakter von Professor Lichtenfels.“

„Man, naja. Da wäre sie echt mal eine ziemliche Domina.“

Er dachte nach. Fluraufsicht von Mytsereu mit Peitsche in der Hand.

Wirf nichts runter, Valerian!

Patsch.

Autsch, das war heiß. Verdammt gut irgendwie.

Man, er würde auf Lichtenfels stehen, wenn der eine Frau im Mytsereu-Look wäre?!

Die Welt war so… befremdlich.

„Dafür würdest du ja auch auf Foirenston stehen, wenn sie wie Lichtenfels aussähe“, konterte er.

„Hä? Ich mag Foirenston jetzt auch schon und es würde sich nicht ändern, egal wie sie aussieht. Ich. Bin. Blind.“

Okay. Okay.

Schon wieder kein Punkt auf seinem Konto. Seine Argumentation war zugegebenermaßen lückenhaft.

Verflucht, heute standen die Fettnäpfchen aber auch dicht.

Wenigstens wusste er das jetzt. Er würde besser an einem anderen Tag gegen Lichtenfels‘ geschmacklose Flurregelungen verstoßen. Aber heute würde er vermutlich dabei erwischt werden. Und da Lichtenfels leider nicht im Mytsereu-Körper steckte, war erwischt werden gar keine verlockende Option.

Nein, das mit den Regelverstößen tat er lieber ein anderes Mal, an einem besseren Tag.