Oh Mann! Jetzt ist es offiziell. Ich bin in der Hölle, dachte Valerian.
Er rüttelte an seinen Armfesseln, doch die Dinger saßen straff, als wollte man ihm damit die Arterien abbinden. Seine Finger waren schon ganz taub. Erst war es nur unangenehm gewesen, dann waren gefühlte hunderttausend Ameisen eingezogen und nun war alles nur noch empfindungslos. Da seine Hände auf den Rücken gebunden waren, konnte er sie nicht näher inspizieren. Dafür war es in diesem Kofferraum ohnehin zu dunkel. Aber er wollte wetten, sie waren geschwollen, blau angelaufen und kurz vorm Absterben. Er versuchte seine Finger zu bewegen. Es fühlte sich beschissen an, aber funktionierte noch. Das Material war rau auf der Haut. Vermutlich waren seine Entführer so ököbewusst, Jute- oder Hanfseile verwendet zu haben.
Ihr scheiß Ökofritzen!
Linda hätte er das ja niemals gesagt, aber verflucht; es war blöd, sich nicht die Nase kratzen zu können, wenn es juckte. Das war doch verrückt! Er steckte an Armen und Beinen gefesselt im Kofferraum, lag unbequem auf dem harten Untergrund – keine Sau dachte daran, Kofferräume für Entführungsopfer zu polstern – und alles woran er denken konnte, war seine juckende Nase. Er schnaubte sarkastisch. Sowas bringen die in den Filmen nie.
Natürlich war die Nase nicht das Einzige, was sein Elend komplettierte.
„Schnüffel nicht rum wie ein Trüffelschwein, Valerian. Und rotz nirgends hin.“
Spitzenklasse. Höllenlevel. Der Bofrostaffe muss natürlich auch dabei sein.
Wieso waren diese Entführer nicht so nett gewesen, wenigstens auch noch ihre Münder zuzukleben? Diese Typen hatten wirklich gar nichts drauf. Zip. Nada. Niente. Amateure.
Die Fesseln waren Mist, der Kofferraum hart, die Gesellschaft unterirdisch und nicht mal richtig kleben konnten sie.
„Ich müsste nicht rumrotzen, wenn Sie uns hier rausbringen würden. Müssten Sie nicht was Nützliches auf dem Kasten haben?“, fragte Valerian zuckersüß.
„Du musst es ja wissen. Schließlich hast Du super geholfen beim letzten Kampf und Dich richtig verausgabt“, konterte Lichtenfels.
>> Christina schmunzelte vor sich hin und trank genüsslich einen Schluck Mineralwasser. Oh ja, gute Idee, dachte sie und rieb sich die Hände.
Da Valerian mit dem Rücken zu Lichtenfels lag – wenigstens gab es etwas Gutes dabei – konnte dieser unmöglich sein Gesicht sehen. Also äffte er ihn im Dunkeln nach. Stimmlos imitierte er seinen Professor.
„Wäwäwä, super geholfen. Wäwäwä, ich bin so ein Arsch. Wäwäwä, ich bilde mir voll was ein. Wäwäwä, ich bin ein Hetaeria Magus.“ Er hüstelte übertrieben, um sich selbst auszubremsen und merkte, wie trocken sein Hals war. Was hätte er nicht für ein Glas Wasser gegeben.
„Wie sind wir überhaupt in diese Scheißsituation geraten?“, fragte er genervt.
>> Christina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und wackelte munter mit den Schreibfingern.
„Das sage ich Dir lieber nicht, Valerian. Du wärst sicher sauer auf mich.“ Sie grinste zufrieden. Ihre Geschichte nahm gute Züge an. Das würden die Leser mögen. Der kleine Maulfrosch Valerian und die Eiszeit Lichtenfels. Gute Kombination. Es war schon amüsant. Aber es hatte sich bei den Lesern eindeutig gezeigt, dass der garstige Professor gut im Kurs stand. Was lag da näher, als ihnen eine unterhaltsame Szene mit den beiden zu liefern.
Sie legte den Kopf schief und las die letzten Worte vom Monitor.
„Gut, wie geht es weiter?“, murmelte sie und lies ihre Finger wieder über die Tasten hüpfen.
„Da hattest Du nicht unerheblich Anteil dran“, warf ihm Lichtenfels vor.
„Ich? Was soll ich bitte gemacht haben?“
Hinter Valerians Rücken ertönte ein amüsiertes Lachen.
„Nein, Du hast sicher nichts gemacht“, stimmte der Prof zu. „Das würde ja eine Form von Aktivität voraussetzen und Du hältst Dich schließlich lieber raus, als würde Dich das alles nichts angehen, nur weil Du Deine Unsterblichkeit noch nicht erlangt hast und noch ein mortal anfälliger Wurm bist.“
„Entschuldigen Sie mal, aber…“
„Nein, ich entschuldige nicht. Sogar jemand wie Du hat einen Job in diesem Gefüge. Ich kann kleinen Kakerlaken nichts abgewinnen, die andere die Arbeit machen lassen und so tun, als hätten sie mit einer dämonischen Bedrohung nichts zu tun. Tja, die Sache ist noch nicht ausgestanden. Denkst Du, wir haben jetzt die nächsten hundert Jahre Ruhe? Glaubst Du, wir sind die Einzigen, die von den magischen Konstrukten unserer Welt wissen? Es gibt immer genügend Endzeitliebhaber, die ihr eigenes Süppchen kochen und uns nicht unterstützen. Sie haben es wohl auf Deine Essenz abgesehen oder warum denkst Du, dass sie Dir einen Dämonendiener auf den Hals gehetzt haben?“
„Was?!“ Zu Valerians staubtrockener Kehle gesellte sich ein widerlicher Knoten im Magen.
„Ach, dachtest Du, sie wären meinetwegen da?“
„Ich, äh…“
„Ich war Deinetwegen da. Weiß der Himmel warum. Dummerweise bin ich für Dich verantwortlich.“
„Danke“, meinte Valerian sarkastisch.
„Das solltest Du besser ernst meinen, sonst wärst Du jetzt schon hässlicher als gammlige Fettuccine in Gorgonzolasauce.“
„Fettuccine in…“, hob Valerian entgeistert an.
„Ach, wusstest Du etwa nicht, dass sie Körper von innen explodieren lassen können? Da hast Du wohl nicht sehr gründlich Deine Lehrbücher durchgeschaut.“
Igitt.
Er verspürte das unbändige Verlangen, sich den Bauch zu reiben und zu schauen, ob noch alle Eingeweide am richtigen Platz saßen, aber diese verfluchten Fesseln verhinderten das gründlich.
„Cromwell hat eine große Bibliothek“, erklärte Lichtenfels. „Deine kleine Seherfreundin beschäftigt sich mehr mit den Studieninhalten als Du und sie ist blind. Aber Ignoranz ist immer schlimmer als biologische Blindheit, richtig? Wenn man sein Hirn gerne blind stellt, nutzen einem die besten Sinne nichts mehr.“
„Alles klar. Sie können mich nicht leiden. Ich hab’s kapiert.“
„Und trotzdem rettete ich Dich.“
Wenn er sich da mal besser dran erinnern könnte. Aber verdammt, es hatte ihm alle Lichter ausgeknipst, als die Sache losging. Er hatte die ganze Show verpennt. Wie ein Baby. Ja Alter, da kannst Du echt stolz auf Dich sein, dachte er zynisch. Das sind die Momente, die ein Tattoo verdienen. Zum Angeben. Echt toll.
Stimmt, Lichtenfels war aufgetaucht. Aber Valerian hatte keinen Plan, was der Professor dann gemacht hatte. Offensichtlich etwas Kraftraubendes, wenn er nun nicht mal mehr etwas gegen ihren Geiselstatus tun konnte.
„Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?“, hakte Valerian nach.
„Du scheinst einen Fan im Orden der Sapientia Oracularum zu haben.“ Die Worte klangen, als wäre das eine Idee, die der Vorstellung einer Erde als Scheibe sehr nahe kam.
„Fan?“
„Es scheint, dass sie Dein Tun überwacht. Wir wissen beide, dass sie da nicht viel zu tun hat, denn Du tust ja nichts. Jedenfalls wähnte sie Dich in Gefahr und schickte mich Dir nach.“
Valerian schluckte. „Linda?“
„Hast Du einen Grund anzunehmen, dass Linda dich stalkt?“
„Meine Fan-Seherin ist eine Stalkerin?“
Der Wagen raste durch eine Kurve und krachte durch ein Schlagloch. Valerian klatschte in voller Länge gegen Lichtenfels.
Ober-Igitt!
Gleichzeitig landete er unsanft auf seiner Schulter und ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Arm. Er hatte das Gefühl, seine Augen würden aus seinem Kopf ploppen und er presste die Kiefer zusammen und versuchte, einen Aufschrei runter zu schlucken. Dennoch entrang sich seiner Kehle ein dumpfes Stöhnen. Er hatte das Gefühl bleich zu werden und spürte Schweißperlen auf der Stirn.
Megamist!
Lichtenfels schien besser durch die plötzlich turbulente Fahrt zu kommen.
„Alles okay bei Dir?“, erkundigte er sich.
„Mann, das interessiert Sie ja doch nicht!“, fauchte er.
Er bekam einen Rempler ins Knie. Offensichtlich versuchte Lichtenfels ihn zu treten. Tja, blöde Fesseln.
„Wenn es mich nicht interessieren würde, hätte ich nicht gefragt“, rügte Lichtenfels mit Eisesstimme. „Ich habe vorhin Dein elendes kleines Pflegekindleben gerettet. Und so wie ich das sehe, solltest Du froh sein, dass ich hier zusammen mit Dir im Kofferraum liege, weil ich die einzige Lebensversicherung bin, die Du dabei hast.“
Scheiße.
Wer hatte ihn nur in diese ätzende Lage gebracht?
>> Christina kicherte.
„Ja, das verrate ich Dir immer noch nicht, Bürschi.“
Sie drehte ihren Kopf im Nacken und wackelte mit den Schultern, um sie zu lockern. Schreiben sorgte leider für Verspannungen. Na gut, es war wohl an der Zeit, dass Valerian sich auch durch seine Verspannungen quälte.
„Okay. Lebensversicherung. Und wie bringen Sie uns hier raus?“
„Da Du Dich schon mal an mich rangedrückt hast,…“
„Never ever. Das war ein Unfall!“, insistierte Valerian.
„…kannst Du auch gleich Deine Hände benutzen und das Handy aus meiner Hosentasche ziehen.“
Schluck.
„Ich soll Ihnen in der Hose rumfummeln?“, hakte er mit schiefer Stimme nach.
Er hörte den Professor hinter sich schnauben. „Bestenfalls nicht. Ich sagte Hosentasche, also behalte Deine pubertären Hobbys für Dich.“
„Ich bin nicht…“
„Es ist in der rechten Hosentasche“, fiel ihm Lichtenfels ins Wort.
Oh Mann, das glaubt mir doch keine Sau! Verflucht, das erzähl ich auch sicher keiner Sau. Scheibenkleister. Scheibenkäse. Scheibe. Scheibe. Scheibe.
Valerian atmete durch. Natürlich juckte seine Nase wieder.
„Das ist doch alles nicht wahr“, murmelte er und rutschte mit seiner Hüfte näher zu Lichtenfels, da seine Hände festgebunden auf dem Rücken genau an dieser Stelle ruhten. Als er gegen Wollstoffhosen stieß, war er mit Ranrutschen fertig.
Das ist so sch….
Seine Schulter schmerzte noch immer, als hätte jemand ein glühendes Brenneisen darin geparkt. Vermutlich ausgekugelt. Jippie ja jeh!
Genau der richtige Zustand, in dem er mit tauben Fingern seinen Prof befummeln wollte. Den Eisklotz. Spitze.
Er versuchte es mit der Hand vom guten Arm und tastete im Dunkeln herum.
„Etwas höher, Valerian.“
Klar, gib mir Anweisungen. Gib mir Tiernamen. Das ist die Hölle!
Mühsam robbte er sich etwas höher, um seine Hände in Hosentaschenhöhe von Lichtenfels zu bringen.
„Was machen wir eigentlich mit dem Handy, wenn wir es haben?“, erkundigte Valerian sich. Er hatte das Gefühl, wenn er redete, würde er nicht so sehr merken, was er tun musste.
Ablenkung. Die war dringend geboten.
Du hältst es so in meine Richtung, dass ich etwas sehen kann. Danach sage ich Dir, wo Du Deine Finger positionieren musst, um die Tastensperre rauszubekommen. Und danach wirst Du die Schnellwahl betätigen und Foirenston anrufen.“
„Warum nicht die Polizei?“
Er fummelte weiter und fand den Eingang zur Hosentasche. Wieso gab es keine Fernbedienungen, mit denen man einfach zurückspulen konnte? Raus aus dieser Karre.
„Weil es keine gute Idee ist, Normalsterbliche auf uns aufmerksam zu machen. Das hier ist ein magisches Verbrechen.“
„Entführung kommt mir sehr irdisch vor“, kommentierte er trocken. Seine Stimme klang, als wäre sie aus Raspelpapier und seine Finger glitten in die Hosentasche.
Ich will nur noch tot sein. Wieso kann hier keine scharfe Braut liegen?
>> „Tja Valerian, weil eine scharfe Braut Dir nicht Deine Haut retten könnte. Kannst Du echt nur an das Eine denken?“
Christina blinzelte ironisch. „Ach ja, ich hab Dich ja erfunden. Stimmt, Pech gehabt. Seit Mytsereu hast Du einen kleinen Hormonschub am Hals. Tja, sie ist nicht da.“
„Kommt Dir Beschwörung auch irdisch vor?“, erkundigte sich Lichtenfels. Man, der Kerl klang völlig ruhig. Als würde ihm gerade keiner in die Hose grabschen.
„Nein“, knirschte Valerian. Schweißperlen standen auf seiner Oberlippe und er spürte eine Ader in der Schläfe pochen. Das war doch ein kosmischer Witz. Von allen blöden Situationen auf der Welt musste er ausgerechnet in diese geraten sein. Und wofür?
>> „Fanart.“
Aber die Stimme aus der Realität konnte Valerian natürlich nicht hören. Vielleicht besser so. Wie hätte er es wohl gefunden, zu erfahren, dass er gar nicht echt war?
„Du bist eine Romanfigur. Du tust, was ich sage.“
Endlich! Er hatte das Handy in der Hand und zog es so schnell aus der Tasche, wie es die verdrehten Fesseln zuließen.
„Sehr gut, dreh mir das Display zu.“
Valerian rieb mit dem Daumen über die Oberflächen und spürte die unebenen Tasten und das glatte Feld vom Display. Auf der Rückseite war die kleine Einbuchtung für die Kamera.
Nein, ich mache jetzt kein Foto. Definitiv kein Moment für die Ewigkeit.
Er hielt das Handy zu Lichtenfels.
„Drück auf eine Taste“, befahl der Prof.
Auch gut. Valerian drückte.
„Gut, jetzt leuchtet es und ich sehe wo Deine Finger sind. Schieb den Daumen zwei Tasten weiter runter. Der Zeigefinger muss eine rauf.“
Valerian fühlte über die kleinen Buckel der Tasten und zählte zwei beim Daumen und eine beim Zeigefinger.
„Gut“, lobte Lichtenfels. „Jetzt drück drauf.“
Valerian presste.
„Bestens. Jetzt geh mit deinem Daumen zwei Tasten nach rechts…. Gut. Drück drauf. Ja, Du hast die Wahlwiederholung aktiviert. Ich habe zuletzt mit Foirenston gesprochen. Jetzt noch die oberste mittlere Taste drücken und Du wählst den Anruf.“
Valerian stand der Schweiß auf der Stirn. Feinmotorik war was für Frauen mit kleinen Händen. Trotzdem schaffte er auch noch die letzte Anwahl.
Dann ertönte ein Freizeichen.
Es hatte sich noch nie so himmlisch angefühlt, es klingeln zu hören. Der Anruf wurde gleich beim zweiten Klingelzeichen angenommen.
„Foirenston, hallo?“
Beide sprachen gleichzeitig.
„Hier ist Lichtenfels“, meinte der Prof und „Wir stecken in einem beschissenen Kofferraum“, verkündete Valerian.
„Wie bitte?“, fragte Foirenston verdutzt.
„Ich rede“, stellte Lichtenfels klar. Dann setzt er die Dozentin mit wenigen Worten von ihrer gegenwärtigen Lage in Kenntnis. „Triangulieren Sie unsere Position und schicken Sie Verstärkung“, instruierte er sie.
„Triangulieren?“, meinte Valerian. „Ich wusste gar nicht, dass Foirenston das kann.“
Es ertönte ein Lachen durch die Leitung. „Mein lieber Junge, das Handy hat GPS. Aus welcher Zeit kommst Du?“
Gute Frage. Kam er aus einer anderen Zeit? Hatte es ihn schon mal gegeben? Was bedeutete diese Unsterblichkeit eigentlich? War er eine wiedergeborene Seele? Aber im Augenblick hatte er eher nicht geglaubt, dass Foirenston technikversiert war. Über gute Überraschungen würde er sich jedoch gewiss nicht beschweren. Hauptsache hier raus kommen. Danach könnte er sich Gedanken darüber machen, weshalb jemand seine Essenz klauen wollte. Mist. Und schließlich durfte er noch sein Trauma bewältigen, Lichtenfels eine Körpervisite abgestattet haben zu müssen.
>> Christina lehnte sich zufrieden zurück und streckte ihre Arme über den Kopf. Ja, auf dieses Trauma würde sie aufbauen können. Oh köstlich, welche Situationen sich daraus noch konstruieren ließen. Aber nun würde erst einmal die Kavallerie anrücken und die beiden befreien. Ein kleiner Kampf und ein bisschen Maulen von Valerian, wenn man ihm die Schulter wieder einrenken würde. Was beschwerte er sich auch ständig, dass sie ihn in diese Situationen brachte? Wer unartig ist, wird bestraft. „Haha.“