Juni 2013 Kolumne – Outtakes Band 2

Flint beruhigt Graciano

Kapitel 5, S. 55 oben

(Immer noch Schweigen. Allerdings wirkte Graciano nun nicht mehr ablehnend,  sondern nachdenklich.)

„Also du sagst, dass die Verkündigung das Wichtigste ist, egal um welchen Preis?“

Oh Mann! Er verstrickt mich in eine religiöse Diskussion! Ich hab doch überhaupt keine Ahnung von diesen Sachen!

Der Wächter blickte ihn weiterhin erwartungsvoll an. Flint musste wohl oder übel etwas sagen.

„Äh, also ich bin da echt kein Experte. Und ‚egal um welchen Preis’ finde ich jetzt etwas drastisch. Na gut, die modernen Formulierungen im Kontext des Alten Testaments wirken etwas… lustig. Aber das ist doch nicht schlimm. Es ist doch nicht entscheidend, ob es ‚von Lagerplatz zu Lagerplatz’ oder ‚von Campingplatz zu Campingplatz’ heißt. Wichtig sind doch die Kernaussagen. Die ich übrigens nicht kenne. Und wenn die immer noch gleich sind, dann ist doch alles in Butter, oder?“

Flint fand, dass er sich mächtig gut geschlagen hatte auf diesem fremden Gebiet. Er fand sich überzeugend.

Stellt sich nur die Frage: Sieht er das auch so?

Diese Frage schien Graciano sich tatsächlich zu stellen. Er hatte immer noch einen mulmigen Ausdruck im Gesicht und wirkte sehr nachdenklich. Schließlich seufzte er.

„Für mich hat die Bibel einen sakralen Charakter. Sie ist heilig. Und sie sollte so nah am Originaltext sein wie möglich. Und ‚Abram war ein schlauer Typ’ passt da für mich einfach nicht ins Bild. Es ist respektlos.“

„Aber war Abram nicht wirklich ein schlauer Typ?“, hakte Flint nach.

„Ja natürlich war er das. Er hat auf Gottes Verheißung vertraut.“

„Was ist dann so schlimm daran, wenn man es genau so aufschreibt?“

„Weil das einfach so nicht in die Bibel gehört. Nicht für mich. Das steht so nicht im Originaltext!“

„Scheiß auf den Originaltext! Die Bibel wurden die ersten paar Jahrtausende mündlich überliefert, oder? Und wenn man das heute immer noch machen würde, dann wäre Abram eben ein schlauer Typ und nicht… na, eben was es sonst so über ihn in der Bibel heißt.“

Wieder schwieg Graciano.

Sehr gut. Er denkt nach.

Flint war geradezu begeistert von sich. Er hätte nicht gedacht, dass er den Wächter mit seinen kümmerlichen Bibelkenntnissen in ein Gespräch verwickeln und noch argumentativ überzeugen könnte. Er hatte ein richtiges Hochgefühl.

„Luther sagte einmal, dass vertraute Bibelworte wie alte Kleider sind. Dass man sie nicht mehr ablegen möchte. Und das vermisse ich hier einfach. Natürlich ist jede Bibelübersetzung ein wenig anders, aber hier erkenne ich den Originaltext fast nicht wieder. Und das kann doch nicht der Sinn der Sache sein. Dass der Text so entfremdet und verbogen wird, dass er irgendwie ‚cool’ und ‚lässig’ wirkt. Hauptsache es liest ihn irgendwer? Das wäre ein schlechter Tausch.“

„Ich glaube, dass du etwas übertreibst. Das ist doch eine reine Gewöhnungssache. Na gut, dann ist dir der Text halt fremd. Mit Sicherheit klingt es weniger erhebend und poetisch als vorher. Das ist doch nicht das Entscheidende. Die Bibel soll, war ich jedenfalls der Meinung, die Leute erreichen. Und wenn diese Volxbibel sogar jemanden wie Valerian erreichen kann (und das will etwas heißen), dann finde ich das eine überragend große Leistung! Und war es nicht auch Luther der gesagt hat, man solle den Leuten aufs Maul schauen? Sieh dich nur mal um. Junge Leute reden heutzutage so, wie es in der Volxbibel steht. Aber heute Abend, haben sich zum ersten Mal welche für die Bibel interessiert, die sonst nichts damit am Hut haben.“

Hey, ich bin wirklich gut. Da fällt dir nichts mehr ein, was Graciano?

Graciano fiel tatsächlich nichts mehr ein.

„Woher weißt du das eigentlich alles?“, wollte er von seinem Mitstudenten wissen.

Flint zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Das habe ich irgendwo mal gehört.“

„Und das hast du dir gemerkt?“

Gracianos Züge hellten sich auf.

„Äh… ja, schon, aber…“

… eher unfreiwillig, aber das kann ich ja schlecht sagen.

Zumindest wäre das die ehrliche Antwort gewesen. Dank seinem photographischen Gedächtnis vergaß Flint praktisch nichts. Doch dieses Eingeständnis wäre seiner Argumentation vermutlich nicht zweckdienlich gewesen.

„Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis“, sagte er stattdessen.

Graciano nickte kurz und schwieg.

Jetzt schnell noch ein Argument nachsetzen, damit er nicht widersprechen kann.

„Und außerdem scheint jemand Qualifizierteres als ich ebenfalls der Meinung zu sein, sonst hätte die Cromwell-Bib diese Volxbibel nicht in das Sortiment mit aufgenommen. Oder?“

Graciano grinste schief.

„Na, ob die Person qualifizierter war, das kann ich nicht beurteilen, aber zumindest scheinst du mit deiner Meinung nicht alleine dazustehen. Soviel ich weiß ist der Gründer der Volxbibel ebenfalls ein Theologe.“