Lichtenfels – Dialog mit seiner Mutter

Es klang, als würden knöcherne Finger an Scheiben kratzen, als der Wind die Zweige gegen die Fenster des hochherrschaftlichen Anwesens in Berlin Grunewald schlug. Jene dunkle Villa, die schon zu Zeiten der Jahrhundertwende erbaut worden war. Manche flüsterten, das Haus habe eine finstere Seele, die sich wie ein alter Baum mit jedem Jahr tiefer einwurzelte. Botschaften und Botschafterresidenzen befanden sich in unmittelbarer Nachbarschaft und verblassten gegen den gewaltigen Bau, der wie ein Schatten aus dem Boden ragte. Nicht einmal das Licht schien von den Steinen reflektiert zu werden.

Umso spöttischer wirkte der Familienname ihrer Bewohner: Lichtenfels.

Hinter vorgehaltener Hand nannte man besonders den ältesten Sohn des Hauses Dunkelstein. Und es war eben jener, der von seinen Schützlingen in Cromwell noch ganz andere Spitznamen erhalten hatte. Frostbein, Eisspinne, Schattenmann. Der Kontext blieb derselbe: Kälte und Schwärze.

Vielleicht, so könnte man sagen, war er die körperlich gewordene Seele des Hauses. Dächte man an Voodoo und wäre die Villa seine Puppe, dann würde der schabende Baum ihm nun wohl den Rücken kratzen.

„Humbug“, sagte Damian Lichtenfels und griff damit auf das Wort eines anderen kalten Mannes zurück. Ebenezer Scrooge. „Ich brauche keine Frau, Mutter.“

Ich habe ja Dich und schon das ist zu viel, dachte er.

Die Frau, die ihn zur Welt gebracht hatte, beherrschte glücklicherweise keine Telepathie. Obwohl sie nicht einmal magisch sonderlich begabt war, erwartete sie, dass man sie als Autorität anerkannte. Einen Mann hätte man möglicherweise als graue Eminenz bezeichnet, doch bei Frauen eines gewissen Alters in gewissen Kreisen pflegte man auf den Ausdruck Dame zurückzugreifen.

Ergraute Schachteln.

„Damian“, gemahnte sie ihn und kam auf ihn zu. Dabei raschelte der Stoff ihrer eleganten Kleidung. Kühle Eleganz war alles, was sie kannte. Nie würde sie ein geblümtes Sommerkleid tragen, wie es die halbe Frauenwelt tat, sobald die Sonne sich zeigte. Sie gehörte zu jenen, die es bedauerten, dass keine Korsetts mehr getragen wurden, da die Haltung insbesondere der jungen Mädchen stark zu wünschen übrig ließ. Damian bedauerte aus einem anderen Grund das Fehlen von Korsetts. Zum einen würde Frauen damit die Puste fehlen, um sich übertrieben zu echauffieren. Er hasste es, wenn man seine Zeit verschwendete und sich aufspielende Furien taten genau das. Doch die viel reizvollere Vorstellung eines Korsetts lag darin, die Trägerin so eng wie möglich zu schnüren. Er wollte nicht weich sein. Er wollte nicht zart sein. Und er hielt absolut nichts von gespielter Höflichkeit und Zurückhaltung. Diese Fassade in der Gesellschaft aufrecht zu halten, kostete bisweilen Kraft und war nichtsdestotrotz eine Quelle ewigen Amüsements. Die Menschen ließen sich unglaublich gerne manipulieren. Damian hingegen hielt davon überhaupt nichts, wenn er Ziel solcher Beeinflussungen war. So konnte er den müßigen Versuchen seiner Mutter wenig abgewinnen, die ebendies gerade versuchte.

Sie legte ihre blasse Damenhand auf seinen Ärmel und suchte mit ihren wasserblauen Augen seinen Blick, forschte darin nach etwas, das sie sich schon zu oft eingebildet hatte, dort zu finden. Einen Zugang zu ihm. Er sah ihr an, dass sie mit der Berührung und ihren flehenden Augen glaubte, ihn manipulieren zu können. Nur zu seinem Spaß würde er eine kleine Weile mitspielen.

„Liebster, es tut keinem Manne gut, allein zu sein“, begann sie.

Ah, dahin läuft die Maus, ja?

„Wie kommst Du darauf, Mutter?“, gab er sich arglos.

Sie wirkte regelrecht schockiert.

„Die Hormone natürlich“, erklärte sie, als wäre das eine Jahrtausende alte Offensichtlichkeit, die kein Argument der Welt je fortspülen konnte.

Er lächelte gespielt verlegen. „Gewiss. Sag Mutter, haben Frauen denn keine Hormone, oder warum bedarf es nur bei Männern einer Partnerin?“

Sie hatte den Anstand rot zu werden. Wie man das von einer Dame erwartete. Gelegentlich fragte er sich, ob man das üben konnte oder sie tatsächlich eine so altmodische Schachtel war.

„Damian, wir Frauen sind da nicht so.“

Fast hätte er laut gelacht. Doch er war ein Meister der Beherrschung und so schüttete er sich nur innerlich aus.

„Verstehe.“

„Mein Lieber, es wäre doch nur gut und für alle Seiten von Vorteil, wenn man das Notwendige mit dem Natürlichen verbindet.“

Er fragte sich, wie viele Seiten es bei einer möglichen Partnerschaft mit ihm und einer unbekannten Frau gab. Angenommen hätte er zwei. Offensichtlich spielte seine Mutter in ihren Gedanken eine eigene Rolle.

„Effiziente Verknüpfungen sind nie verkehrt“, pflichtete er ihr daher lauernd bei.

Sie lächelte zufrieden.

„So könnte doch dein hormoneller Spaß mit der Zeugung eines Enkels verbunden werden.“

Interessante Formulierung. Es kam also darauf an, dass sie einen Enkel hatte und nicht er einen Sohn. Im Stammbaum wäre das einerlei.

Damian nickte nachdenklich.

„Ich frage mich gerade, ob es sich bei meinen hormonellen Bedürfnissen nun um das Notwendige oder das Natürliche bei jener Verknüpfung handelt.“

Sie wurde noch röter. Das bildete einen interessanten Kontrast zu ihrem Perlen besetzten Hals. Es war ein dürrer Hals, um den er schon so manches Mal gerne seine Finger gelegt hätte.

„Um das Notwendige natürlich“, wand sie sich.

„Ah, ich hätte es für natürlich gehalten und war überrascht, dass ein Enkel der Notwendigkeit entspricht.“

„Nun ja“, sie zupfte an ihrem spitzenbesetzten Ärmelsaum. „So ganz unwichtig ist das nicht. Unser Blut ist von altem Geschlecht und unsere Macht sehr konzentriert.“

Was meint sie mit »unsere«? Sie ist schwach wie eine Stubenfliege und wurde nur aufgrund ihres Aussehens in unsere Familie eingeheiratet. Offensichtlich eine kleine Schwäche seines Vaters, der ihre Gier nach Status mit Liebe zu ihm missverstanden hatte. Zumindest verfügte sie über ein gewisses Talent, repräsentative Empfänge auszurichten, obwohl er diese säuselnden Botschafter aus der Nachbarschaft nicht besonders gut leiden konnte. Nützlich mochten sie sein. Er konnte sich zudem rühmen, gesellschaftlich höher zu stehen als der Cromwell-Leiter Fowler. Mit dem Konzept, einen Vorgesetzten zu haben, hatte er sich indes nie anfreunden können. Dazu wusste er zu gut, was Macht bedeutete und fand sie verlockender, als etwa eine Partnerin zu erwählen.

Aus welchem Jahrhundert war seine Mutter eigentlich? Glaubte sie ernsthaft, er müsse mit einer Frau fest zusammen sein, um sich Entspannung zu verschaffen? Und war sie plötzlich so römisch-katholisch eingestellt, zu glauben, dabei sollte ein Kind entspringen? Er war stets darauf bedacht gewesen, das genau dies nicht geschah.

Es war weniger die Sorge, er könnte ein schlechter Vater sein. Zu solchen Gefühlen war er nicht fähig. Ein Kind würde für ihn somit keine Rolle spielen. Besonders dann, wenn die Mutter keine Anforderungen stellte. Aber er gönnte seiner eigenen Krähe von Mutter nicht, dass sie sich ein Kind unter den Nagel riss wie eine Hexe in Märchenbüchern Erstgeborene beanspruchte. Er war selbst ganz gut gelungen, aber das verdankte er nicht ihr. Das ganze Gegenteil war der Fall.

Darüber hinaus wäre ein Nachkomme nur dann zu vertreten, wenn er wahre Macht in sich hätte. Somit käme ausschließlich eine starke Blutlinie in Betracht. Doch Frauen von solcher Kraft waren zu emanzipiert.

Er schnaubte verächtlich als er an Foirenston dachte. Sie war ein kaltes Fischweib, das er gerne zu fest in ein Korsett geschnürt hätte. Um sie vergessen zu lehren, dass sie hochmütig war. Um sie dafür zu bestrafen, dass sie vor gar nicht langer Zeit auf ihn herab gesehen hatte als wäre er ein Insekt. Mit ihren arroganten Augen hinter den hässlichen Brillengläsern.  Und weil es ihn störte, dass dieses Aas als Konrektorin herum lief und nicht ihm der Posten des Stellvertreters zuerkannt worden war.

Wenn er sie schon hörte… „Professor… was kann ich für Sie tun?” Mit einem Klang in der Stimme, der einen Countdown für sein Anliegen setzte. Als wäre es nichtig, was er an sie herantrug. Sie schätzte ihn keineswegs. Er hätte Missbilligung besser ertragen, wäre sie von jemandem gekommen, der ihm nicht unterlegen war. Sie hatte ihn zudem der Lächerlichkeit preisgegeben, als sie nichts gegen die Texte in der Studentenzeitschrift unternahm, ja nicht einmal daran dachte, solch frevlerisches Verhalten von untalentierten Emporkömmlingen zu sanktionieren.

Warum sollte er sich also ein Weib ans Bein binden, um ein anderes glücklich zu machen, sollte seine Mutter das überhaupt sein können?

„Damian“, beschwor sie ihn gerade erneut, „es wäre eine solche Schande, Gene wie die Deinen nicht weiter zu vererben. Dafür bist Du zu groß.“

Sieh an. Wie weit wird sie sich noch erniedrigen, um mich ihrem Willen zu unterwerfen? Der Abschnitt »Lobpreise den Sohn« war neu. Er tat, was alle Psychologen taten, die wenig Eigenes beisteuern wollten. Er griff ihre letzten beiden Worte auf.

„Zu groß, Mutter?“

„Aber natürlich, Liebling. Von all meinen Kindern bist Du am talentiertesten.“

Von all Deinen beiden Kindern?

„Was genau findest Du an mir denn talentiert?“

„Alles“, sagte sie schlicht, um sich keine Details einfallen lassen zu brauchen. Es war schwierig, bei nur einem Wort, die letzten zwei aufzugreifen. Also reduzierte er es.

„Alles. Das ist wenig konkret.“

„Was willst Du denn hören?“, meinte sie erschöpft.

Er legte den Kopf schräg. Irgendwie amüsierte sie ihn nicht genug.

„Dann kann ich es mir gleich selbst sagen, meinst Du nicht? Deine Frage verfehlt den Sinn. Aber bevor Du Dich mit intensivem Nachdenken quälst“, was zweifelsohne viel verlangt wäre, fügte er in Gedanken hinzu, „verrate mir doch lieber, welche Frau Du für mich ausgesucht hast. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass Du auch hierfür schon einen Vorschlag hast.“

„Nun gut“, sie nickte. „Ich dachte an Lycida.“

Fast wäre ihm der Atem im Hals stecken geblieben. „Die Schwester von Kendricks und Katharinas Mutter? Die Lycida?“

„Es kann schon sein, dass ihre Verwandten so heißen. Die Familie ist sehr angesehen.“

„Und zu was willst Du mich dabei machen? Zum netten Onkel Hopsasa?“

„Sie ist immerhin vom Hetaeria Magi.“

„Ach na dann.“ Er sah sie erbost an. „Weißt Du eigentlich, wie viele Frauen im Hataeria Magi sind? Ist es Dein einziges Kriterium, dass sie von dort kommt? Da kann ich ja gleich einen Harem mit fünfzig Frauen daraus gründen und alle mit meinen kostbaren Genen beglücken.“

Ihre Kinnlade klappte herunter und ihre noble Blässe wurde kränklich bleich.

„Das ist Bigamie“, stotterte sie.

„Aber nicht doch, Mutter“, gab er sich betont glatt. „Nur, wenn ich sie alle heiraten würde.“

Er legte seine Arme um ihre Schultern und drückte sie aufbauend, als wollte er ein Kind trösten. „Und ich kann Dir versichern, dass ich das nicht vorhabe.“

Dabei ließ er offen, ob er von Massenehen oder einem Harem sprach. Und ganz gewiss ließ er offen, ob er in der Zukunft mehr als eine Frau für sein persönliches Vergnügen kennen würde.

„Aber Lycida“, versuchte seine Mutter erneut den vergeblichen Versuch. Er unterbrach sie, was zwar unhöflich, aber sachdienlich war.

„…ist nicht im Geringsten mein Typ. Ich bin mir nicht sicher, ob Du sie ernsthaft schon einmal gesehen hast. Aber es gibt hübschere Hunde als sie.“

„Du kannst eine Frau doch nicht nur nach dem Äußeren beurteilen“, schalt sie ihn.

Warum nicht? Vater hat dasselbe getan und es hat Dich nicht gestört.

„Bestimmt nicht, sie sollte auch Macht haben und in meinem Orden sein. Das haben wir ja schon festgestellt.“

Sie nickte verdattert.

„Darüber hinaus sollte sie einige maßgebliche Tugenden aufzeigen, die in einer guten Ehe unerlässlich sind.“ Das hatte er aus seiner eigenen Kindheit von der Ehe seiner Eltern gelernt.

„Es ist gut, dass Du Dir darüber Gedanken gemacht hast. Ich bin froh, dass Dir das Thema also nicht völlig fremd ist. Was sind das für Tugenden?“

„Sie sollte bescheiden sein“, besonders mir gegenüber. „Es ist wichtig, dass sie ihren Platz kennt.“

„An Deiner Seite?“

„So ähnlich, Mutter.“ Er dachte mehr an eine Stellung unter ihm und weniger gleichberechtigt. Seite klang zu sehr nach Augenhöhe. „Und natürlich müsste sie mich akzeptieren, wie ich bin, denn ich habe nicht vor, mich für irgendwen zu ändern. Aber da Du ja schon festgestellt hast, wie großartig ich bin, wäre das wohl nicht nötig.“

„Ähm… ja.“

Vor allem dürfte eine künftige Frau, die er nicht haben wollte, keineswegs mit Eifersüchteleien kommen, wenn er Foirenston doch eines späten Tages bändigte.

Er hatte viele Vorstellungen in seinem Kopf. Die Ehe entsprach keiner davon.

„Vielleicht könnte ich ein hübsches Mädchen mit dieser Beschreibung im Orden für Dich finden und dann führst Du sie zu einem Abendessen bei Kerzenschein aus“, kam der widerliche Vorschlag seiner Mutter.

Kerzenschein und Abendessen gehörten nicht zusammen. Das Wort Mädchen, wie seine Mutter es genannt hatte, war umso mehr fehl am Platze. Dabei fielen ihm unreife Gören wie Tamara oder Katharina ein. Solche Hühner interessierten ihn nicht die Bohne und hatten ihn auch noch nie interessiert.

„Bitte lass die Minderjährigen im Dorf“, meinte er daher sarkastisch. „Und kümmere Dich auch sonst nicht weiter um meine Angelegenheiten. Ich sehe, Du kennst weder meinen Geschmack, noch meine Vorstellungen.“ Glaubte sie ernsthaft, er wollte langweilige erste Dates mit verkniffenen Mäusen haben?

„Aber Du unternimmst in dieser Hinsicht ja nichts“, warf sie ihm vor.

„Das könnte daran liegen, dass meine Pläne mit Deinen nicht ganz konform gehen. Du solltest Dich besser an meinen jüngeren Bruder wenden, was Deine Enkelbemühungen betrifft. Aber vergiss nicht, wenn Du ihn dafür gewinnen willst, sein eigenes Glück wenigstens einmal bei der Sache zu erwähnen. Ein guter Rat von meiner Seite. Ach und ja, reduziere ihn möglichst nicht auf seine Hormone, wenn Du von deinen großmütterlichen Bedürfnissen sprichst. Das wirkt fehl am Platze.“

„Was soll denn das heißen? Dass Du gar keine Kinder zeugen willst? Nur über meine Leiche.“ Sie sah ihn entsetzt an. Es tat ihr nie gut, wenn sie ein Spielzeug, das sie wollte, nicht bekam. Trotzdem besann sie sich möglicher Falten im Gesicht und glättete kultiviert ihre Gesichtszüge.

Er lächelte sardonisch.

Ja Mutter, über Deine Leiche.